Drei Erkenntnisse aus 2020

Du kannst nichts erzwingen. Du kannst der (Literatur-)Welt nur ein Angebot machen.

Ich habe es vor drei Wochen schon geschrieben: Über zu wenige Aufgaben konnte ich mich zum Abschluss von 2020 nicht beschweren. Zwei Tage vor Heiligabend schleppte ich mich über die Ziellinie – und ging daraufhin erst mal in den Wald. Einatmen, ausatmen, einen gedanklichen Schlussstrich ziehen und – natürlich – neue Pläne schmieden.

Im nächsten Jahr will ich konsequenter und kontinuierlicher literarisch arbeiten. Zugegeben, das ist nicht gerade ein neuer Vorsatz, vielmehr ein Dauerbegleiter, der leider immer wieder im Alltag verkümmert – torpediert vom Unvorhersehbaren und der eigenen Nachgiebigkeit.  

Schon mal beim Umsetzen gescheitert zu sein, ist (nicht nur bezogen auf Vorsätze) aber kein Grund, es sich nicht wieder vorzunehmen. Drei Erkenntnisse aus den vergangenen zwölf Monaten bestärken mich. Sie haben schon meine Arbeitsweise verändert und meine Neugierde befeuert. Ich will wissen, was sie noch bewirken.

Locker machen

Erkenntnis eins lautet: Niemand wartet auf mich. Die Welt kommt ohne meine Geschichten zurecht. Das mag auf den ersten Blick niederschmetternd sein, eine Beleidigung meiner Schaffenskraft, ein Schlag gegen meine Überzeugung, etwas zu sagen zu haben, das unterhaltsam, wertvoll, originell ist.

Tatsächlich ist die Erkenntnis realistisch, ehrlich, befreiend. Sie nimmt mir jeden Druck. Sie lehrt mich Gelassenheit, für den Fall, dass meine Veröffentlichungen nur ein kleines Publikum finden oder meine mit Herzblut verfassten Manuskripte nicht die Begeisterung von Agenten, Verlagen oder Jurys.

Ich zähle all die großartigen Bücher, die ich gerne lesen würde und nicht die Zeit dafür finde. Ich akzeptiere, dass es da draußen Hunderte andere gibt, die mindestens genauso originell sind wie ich, manche erfolgreich, manche nicht – und nicht wenige, die zwar ganz und gar nicht originell sind, aber trotzdem erfolgreich.

Ich bin mir bewusst, dass ich nichts erzwingen kann. Was ich kann, ist den Literaturbegeisterten dieser Welt ein Angebot machen. Wenn sie es nicht ergreifen, soll es vielleicht (noch) nicht sein. Was nicht bedeutet, dass ich nicht trotzdem weiter all mein Herzblut investieren werde. Wie schon erwähnt: Zu scheitern ist kein Grund, es nicht weiter zu versuchen.

Detailgetreu zeichnen

Die zweite Erkenntnis war so ein- und aufdringlich, dass sie sich mir immer wieder in den Weg stellte. In den Schreibratgebern, die ich in den langen Phasen der Zurückgezogenheit während der Pandemie studiert habe, in den MasterClasses, denen ich mich widmete und in den Gesprächen mit S., meiner liebsten Diskussionspartnerin in Sachen künstlerisches Wirken.

Die Erkenntnis lautet: Die Figur steht über allem. Die Figur schlägt die Handlung. Die Figur macht die Geschichte. Oder, wie es der unlängst angepriesene Sol Stein in Über das Schreiben formuliert: Du musst die Insassen eines Autos kennen, um dich dafür zu interessieren, was mit ihnen bei einem Autounfall passiert.

Die Folge dieser Erkenntnis, festzustellen beim aktuell entstehenden Romanprojekt (mit verdammt vielen Figuren, sieben davon fest gewillt, zu den Protagonistinnen und Protagonisten gezählt zu werden): Arbeit, viel Arbeit. Denn hinter die Ziele und Motivationen jeder einzelnen (zentralen) Figur zu kommen, ihre Vorgeschichte zu durchdringen, ein detailgetreues Bild von ihr zu gewinnen, sie so zu zeichnen, dass man wissen will, was aus ihnen wird – das kostet Zeit, Geduld und Leidensfähigkeit.

Aber es ist unausweichlich: Lebensechte und einnehmende Figuren bringe ich nur dann aufs Papier (oder auf den eBook-Reader), wenn ich mehr über sie weiß als sie selbst. Was mich zu Erkenntnis Nummer drei bringt.

Tief graben

Die Idee für den aktuellen Roman schleppe ich seit mehr als einem halben Jahr mit mir herum. Ich habe sie anfangs ein wenig geknetet, seitdem verhält sie sich wie ein gelungener Hefeteig, dessen Zutaten man richtig beigemischt hat: Sie geht, sie wächst.

Es begann mit einem Setting: eine Schule in der Nachbarschaft, eine Sommernacht, johlende Jugendliche. Der Impuls vermengte sich mit Mutmaßungen und Erinnerungen zu einem Grundszenarium. Dann klopften die Figuren an – eine nach der anderen, zunächst zaghaft und misstrauisch, wie von einem Schleier verhüllt, dann doch bereit, den Schleier zu lüften, sich mir Schritt für Schritt zu offenbaren.

Ich fand heraus, wie sie aussehen. Ich suchte nach hervorstechenden Merkmalen. Ich erforschte ihre Vergangenheit, weil in ihr der Schlüssel liegt für ihre Ziele, ihre Motivationen, ihren Antrieb. Ich bin noch dabei, in ihre Haut zu schlüpfen, die Bücher zu lesen, die sie lieben, das Leben zu träumen, das sie sich erträumen, mit ihren inneren Konflikten zu kämpfen, ihre Wut zu fühlen, ihr Glück zu genießen.

Einiges von dem, was geschehen wird, kam während dieses Durchdringungsprozesses bereits en passant zu mir: kleine Wendungen, die sprichwörtlichen Flügelschläge eines Schmetterlings mit weitreichenden Folgen, plötzliche Veränderungen im Gleichgewicht der Mächte. Um die Handlung komplett zutage zu tragen, muss ich noch viel tiefer graben. Nicht nur in den Innenwelten der Figuren, auch in den Potenzialen der Geschichte.

Nicht alles, was ich finde, taugt etwas. Vieles werde ich verwerfen, vielleicht sogar das meiste. Ich werde in Sackgassen geraten, zurückkehren und neue Tunnel graben müssen. Mit Glück werde ich die Rohstoffe finden, die (kombiniert mit noch mehr Glück und einem geschickten Händchen beim Stricken der Dramaturgie) dafür sorgen, dass etwas Gutes entsteht, auf das ich stolz sein kann – völlig gleich, wie viele Menschen mein Angebot letztlich ergreifen werden.

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