Über das Überarbeiten

Das Überarbeiten vermag ins Wahnhafte zu kippen. Und dennoch ist es nötig.

Ein Roman ist eine Konstruktion (wobei darauf zu achten ist, dass die Handlung des Romans nicht konstruiert wirkt, sondern getrieben ist durch die schlüssigen Konsequenzen eines auslösenden Ereignisses, das die Welt der Charaktere für immer verändert). Man kann es sich bei der Konstruktion eines Romans leicht machen oder schwer – und ob man sich für das eine oder das andere entscheidet, sagt für sich genommen nichts über die Qualität des Werks aus.

Ich mache es mir gern schwer. Weil sich alles in mir gegen konventionelle Erzählpraktiken sträubt. Angenommen, ein Roman wäre ein Haus und ich sein Architekt, dann käme mir nicht in den Sinn, ein Gebäude mit zweimal zwei gleich langen Wänden und klassischem Satteldach zu bauen. Das wäre zwar risikoarm (niemand spreche mich bitte auf meine Haltung zu Flachdächern an!), aber auch ein wenig langweilig.

Knifflige Suche nach Baumaterialien

Ich habe in den vergangenen eineinhalb Jahren ein neues Haus gebaut. Es trägt den Arbeitstitel Der Abschluss und sieht in meiner Vorstellung ungefähr so aus wie das Apartmentgebäude „Ting 1“ von Gert Wingård im nordschwedischen Örnsköldsvik. Den Schlüssel zu meinem Haus rücke ich vorerst nicht raus. Möglicherweise muss ich es – obwohl ich es schon hübsch eingerichtet habe – in den anstehenden Wochen und Monaten noch mal entkernen. Oder schlimmer: abreißen und neu bauen.

So ist das mit meinen literarischen Konstruktionen, so war es besonders in diesem Fall. Die Auswahl der Baumaterialien war ein langwieriger und kniffliger Prozess. Ich investierte im halben Jahr nach dem ersten Impuls viel Planung in die Geschichte und ihre Form.

Im Januar 2021 erkannte ich, was ich mir da aufgehalst hatte: acht Perspektiven, unterschiedliche Erzählweisen, viele Geschichten in der Geschichte – die Fäden nahmen überhand. Und von Seiten geschätzter Ratgeberinnen kamen schnell Zweifel auf, ob mein Haus – so, wie ich es entworfen hatte – bewohnbar sein würde. Ob es nicht sinnvoll wäre, einige Perspektivfiguren zu degradieren und die Komplexität abzubauen – ohne deswegen simpel oder oberflächlich zu werden.

Das frisch gebaute Haus einreißen

Ich baute es trotzdem zu Ende. Verschob mein Urteil aufs Danach. Widmete mich sogar recht intensiv der Inneneinrichtung. Baute Mansarden ein und freischwebende Treppen. Achtete natürlich auf Statik und Substanz, das Haus sollte schließlich nicht beim ersten Windstoß umkippen. War mir aber stets bewusst, dass all die schönen Elemente womöglich rausfliegen könnten. Hoffte zwar, ich würde keine tragenden Wände einreißen müssen, halte mir aber die Freiheit offen, es zu tun.  

Echte Architekten – ich kenne keinen und kann nur vermuten – tippen sich beim Gedanken daran, ein Haus zu planen, zu bauen und direkt wieder abzureißen, vermutlich an die Stirn. Was wäre das auch für eine Verschwendung von Zeit und Geld? Glücklicherweise ist es vergleichsweise günstiger (und ökologischer!), einen Roman zu „bauen“ als ein Haus. Beim Hausbau sollte der erste Versuch sitzen, beim Romanschreiben mündet der erste Versuch selten bis nie in mehr als einer Rohfassung.

Erst kommt die Kür, dann die Pflicht

Mit dem Schreiben dieser Erstfassung und dem Überarbeitungsprozess bis zum finalen Werk verhält es sich grob genau umgekehrt wie mit dem Spruch „Erst kommt die Pflicht, dann die Kür“. Zahlreiche Literatinnen und Literaten berichten das aus leidvoller Erfahrung, mir ging es auch schon so: Beim Schreiben steht die Kür am Anfang, als weitgehend zügelloses Fabulieren. Frei und assoziativ, selbst wenn sie einem ungefähren Plan folgt. Die Aussicht, hinterher überarbeiten zu müssen, löst allgemeines Ächzen aus.

Egal, ob es darum geht, einzelne Sätze zwölf- bis zwanzigmal umzuschreiben, bis die Zweifel an ihrem Klang ausgeräumt oder zumindest größtmöglich reduziert sind. Oder darum, alles in Frage zu stellen, ganze Passagen um- oder rauszuwerfen, bis zur Unkenntlichkeit des Ursprungstextes zu wüten, die „Darlings zu killen“, wie es heißt – das Überarbeiten vermag ins Wahnhafte zu kippen. Und dennoch ist es nötig. Zu überarbeiten heißt zu festigen. Überarbeiten heißt: die Substanz verbessern und mit ihr die Statik der (unsichtbaren) Konstruktion.  

Die Rohfassung von Der Abschluss vor mir liegen zu sehen erfüllt mich mit Stolz. Ich habe mich in meinem Häuschen umgeschaut; es ließe sich darin aushalten, es ist in jedem Fall besonders. Aber meine literarisch-architektonische Arbeit ist längst nicht am Ende. Der herausfordernde Teil beginnt gerade erst. Die Abrissbirne steht schon bereit.

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